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Presse-Stelle:  Der Spatz - Alternativer Anzeiger für Bayern, D-80999 München
Rubrik:Naturschutz    Datum: 13.12.2001
Die Vertreibung der "Wilden" aus der "Wildnis"
Die Nationalpark-Ideologie des Nordens ist kontraproduktiv Indigene Völker erhalten die Biodiversität
Von Wildnis wird heute wieder viel geredet, aber was ist das überhaupt? Meinen wir damit geschützte, unbewohnte Gebiete wie Naturparks, ist Wildnis möglicherweise ein exotisches Urlaubsziel in fernen Ländern oder sogar eine Fotosafari mit wilden Tieren? Das ist eine von vielen Fragen zum Thema Natur und Mensch, die Norbert Suchanek in seinem neuen Buch "Mythos Wildnis" stellt und diskutiert. Wenn er Ursprünge und Geschichte unserer christlich-eurozentrischen Naturauffassung untersucht, wird klar, wie die "Nationalparkideologie" zustande kam - und wie tiefgreifend ihre Konsequenzen sind.

Blickt man ein wenig zurück, verbanden in Deutschland die Brüder Grimm schon in ihren Märchen - und damit vielleicht auch in unseren Köpfen - Wildnis mit dichten, dunklen Wäldern, die oft als Gegensatz von Acker- oder Kulturland, also zur Zivilisation, angesehen wurden. Eng damit verbunden ist der Begriff "wild". Darunter fallen frei lebende Tiere, unkultivierte Pflanzen - und von da aus ist es schon kein großer Schritt mehr zu "unkultivierten" Menschen und "wilden Indianern". "Alles, was noch nicht christianisiert war oder was nicht den eigenen Vorstellungen von Kultur und Landwirtschaft entsprach, wurde als minderwertig abqualifiziert, auf eine andere Stufe gestellt und als 'wild', 'Wilde' oder 'Wildnis' bezeichnet", schreibt Suchanek. Je industrialisierter die Welt, je unwirtlicher die Städte, desto größer wurde aber auch der "Traum von der Wildnis", von Land ohne Menschen, besonders für die wachsende erholungsuchende Bevölkerung aus den Städten.

Zur gleichen Zeit entstand in den USA eine auf dem Wildnis-Konzept basierende Nationalpark-Ideologie, die bis heute in vielen Regionen der Welt fortwirkt und vor allem in Kolonialstaaten fruchtbaren Boden fand. Allerdings hat sich inzwischen herausgestellt, dass trotz 125-jähriger Nationalpark-Erfahrung die Erosion der Artenvielfalt weltweit nicht gestoppt werden konnte. Ganz im Gegenteil, die Zerstörung der Biodiversität nahm global noch nie da gewesene Ausmaße an.

Nach den Kriterien der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) ist es das Ziel, mindestens 75% eines Nationalparks von Menschen unbewohnt und ungenutzt, also "wild" zu lassen. Ein ganz wichtiger Faktor ist dabei überhaupt nicht berücksichtigt worden: "Viele Gebiete mit der höchsten biologischen Diversität unseres Planeten sind von indigenen und traditionellen Völkern bewohnt", zitiert Suchanek den Ethnobiologen Darrell Addison Posey. Diese indigenen Völker haben, jedes auf seine eigene Art, in ihren Ökosystemen die verschiedensten Konzepte zur Aufrechterhaltung der biologischen Vielfalt entwickelt. Wer diese Verbindung "durch die Schaffung von künstlichen Wildnissen oder das Überstülpen einer universalen, westlich-konservativen Naturschutzideologie zerstört, muss mit einer Degradierung dieser Ökosysteme und einer Verringerung der biologischen Vielfalt rechnen".
Ein Programm, dessen erklärtes Ziel es ist, die globale Artenvielfalt zu retten, hat sie also nicht nur nicht aufgehalten, sondern in manchen Fällen erst begonnen und dabei unzählige indigene Völker heimatlos gemacht.

Die überhörbare Botschaft dieses Buches ist, dass das Wildnis-Konzept wie keine andere Naturschutzideologie haargenau ins Konzept der Industriegesellschaft passt - und daher auch von internationalen Konzernen, Touristikunternehmen und staatlichen Entwicklungsorganisationen unterstützt wird. Unser zunehmend geteiltes Weltbild wird so immer weiter polarisiert: Auf der einen Seite wird die Umwelt verschmutzt, verändert, ausgebeutet und zubetoniert, auf der anderen müssen wir mehr Orte der "Wildnis" - Naturparks, Biotope etc. - schaffen, wo sich der gestresste industrialisierte Mensch erholen kann.
Um die Natur wirklich zu schützen, müssten viele Menschen ihren Lebensstil drastisch verändern. Statt dessen werden Wildnisse mehr und mehr zu Alibis, die unsere Umweltzerstörung kaschieren sollen. Gleichzeitig entsteht eine andere Art von "Wildnis" - im Sinne von unbewohntem und ungenutztem Land - "aus unserem unstillbaren Hunger nach Rohstoffen und Energie. Dank rücksichtslosem, unmenschlichem Bergbau und giftigen Abraumhalden oder oberirdischen Atomtests wie im australischen Maralinga schaffen wir für Menschen unbewohnbare Wüsten, Wildnisse im wahrsten Sinne des Wortes, die nicht mal Touristen aufsuchen wollen". Suchanek gibt Beispiele aus Ländern wie Indien, Nicaragua, Kenia und Brasilien und geht besonders auf die Abholzung tropischer Wälder rund um den Globus ein.

Ein ganz aktuelles Thema mit noch unübersehbaren Folgen wird im Kapitel "Wildnis und Biopiraterie" angeschnitten. Pflanzen, die weltweit als "natürlich" oder "wild" bezeichnet werden, werden heute plötzlich für große pharmazeutische Unternehmen patentiert. Ob es sich um medizinische oder andere Nutzpflanzen handelt, spielt dabei keine Rolle, gefragt ist das genetische Material von Kakao bis Weizen. "Es ist ein Goldfieber - wie früher, als die Leute in den Yukon gingen, um nach Gold zu suchen", so Helena Paul von der Londoner Gaia Foundation.

In einer "Kulturphilosophischen Schlußbetrachtung" betrachtet Suchanek noch einmal zusammenfassend die Begriffe "Wildnis" und "Natur". Er stimmt dem amerikanischen Naturphilosophen Henry David Thoreau zu, für den "Wildnis kein realer Ort ist. Wildnis ist eine westliche Vorstellung, für manche eine Sehnsucht nach einer Natur, die von unserer Zivilisation unberührt ist, eine Sehnsucht nach dem Zustand vor der Vertreibung aus dem Paradies."
Dem Buch kann man nur wünschen, dass es an Schulen und Universitäten diskutiert wird. Auf viele Fragen, die hier angeschnitten werden, gibt es noch keine Antwort. Sie gehen jedoch jeden Einzelnen an und müssen nicht nur erkannt und zu Ende gedacht werden. Solange unser Erkennen keine tiefen Konsequenzen für unsere persönlichen und kollektiven Lebensentscheidungen mit sich bringt, verschließen wir die Augen vor der Wahrheit. Und wie lange kommen wir damit noch durch?

Constanze Frank


Norbert Suchanek, Mythos Wildnis
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2001
138 Seiten, 19,80 DM, ISBN 3-89657-574-0

Zu bestellen bei:
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oder im Internet unter www.schmetterling-verlag.de

Norbert Suchanek
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