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This text has also been published in English. Wie viel Erdgas importieren wir derzeit aus Russland und wo kommt es zum Einsatz? Im Jahr 2020 importierte Deutschland netto rund 860 Terawattstunden (TWh) Erdgas. In den Jahren zuvor lag der Wert eher um die 1.000 TWh und darüber. 2020 stammten dabei etwa zwei Drittel des importierten Erdgases - rund 570 TWh - aus Russland. In den Jahren zuvor ist der Anteil stetig angestiegen und lag dabei im Mittel bei rund 50 Prozent. Der Hauptanteil des in Deutschland benötigten Erdgases wird direkt verbrannt, etwa um Gebäude zu heizen oder um hohe Temperaturen bei der Lebensmittel- oder in der Chemieproduktion zu erzeugen. Lediglich rund 19 Prozent - 188 TWh - des Erdgases wird benutzt, um daraus Strom zu erzeugen. Können wir Erdgas ersetzen, indem wir die Kernkraftwerke länger laufen lassen? Der Großteil des Erdgases, das in Gebäuden für die Wärmeerzeugung oder als Prozessgas in der Industrie eingesetzt wird, kann nicht durch Kernkraftwerke ersetzt werden. Denn: Von den 188 TWh die wir in Deutschland zur Gasverstromung nutzen, entfallen circa 120 TWh auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK), die nicht nur Strom, sondern auch Fernwärme für Heizung und warmes Wasser oder Prozesswärme für die Industrie erzeugen. Die Kernkraftwerke würden höchstens die Stromerzeugung ersetzen, nicht aber die Wärmeproduktion. Erdgasgefeuerte KWK-Anlagen können somit nicht durch den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken ersetzt werden. De facto verbleibt damit von den 188 TWh Stromerzeugung aus Erdgas ein Segment von rund 70 TWh aus Gaskraftwerken, die nur Strom produzieren und welches theoretisch ersetzt werden könnte. Das entspricht etwa einem Zehntel des gesamten aus Russland importierten Erdgases. Doch diese Gaskraftwerke haben eine besondere Funktion im Energiemarkt und für die Stromnetze. Denn sie springen sehr flexibel ein, wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint und gleichen eine mögliche Stromlücke kurzfristig aus. Kernkraftwerke sind für solche flexiblen Einsätze nicht geeignet, da sie nicht oder nur sehr begrenzt innerhalb von wenigen Minuten hoch- und heruntergefahren werden können. Die Funktionen der Gaskraftwerke für die Stabilisierung der Stromversorgung können Atomkraftwerke ebenfalls nicht ersetzen. In einem aktuellen Kurzpapier des BDEW zu kurzfristigen Substitutions- und Einsparpotenzialen von Erdgas in Deutschland werden verschiedene Optionen zur Reduktion des Erdgasverbrauchs in den verschiedenen Sektoren untersucht. Im Stromsektor wird hier neben der marktgetriebenen Reduktion der Erdgasverstromung auch die Option einer Laufzeitverlängerung von AKWs untersucht. Die Studie weist für diesen Fall eine Reduktion der Stromerzeugung aus Erdgas um rund 3 TWh aus. Bei einem Wirkungsgrad der Erdgas-Anlagen von 50 Prozent würde das einer Einsparung von 6 TWh Erdgas entsprechen. Unser Zwischenfazit: Als Ersatz für die Stromerzeugung aus Erdgas sind die Kernkraftwerke nicht geeignet. Welche weiteren Probleme ergäben sich für den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke? Davon abgesehen, dass der Atomausstieg gesetzlich festgeschrieben und damit nicht ohne weiteres rechtlich zu ändern ist, gibt es weitere Hürden, die einen Weiterbetrieb erschweren. Dazu gehören:
Unser Fazit ist deshalb: Wir brauchen die Kernkraftwerke nicht, weil sie die Funktionen der Gaserzeugung nicht ersetzen können. Die Verlängerung von Laufzeiten ist kurzfristig technisch unmöglich, eine mittelfristige Verlängerung der Stromproduktion braucht circa eineinhalb bis zwei Jahren Vorlaufzeit. Diese mittelfristige Verlängerung wäre extrem teuer und mit hohen Sicherheitsrisiken und hohem Verwaltungsaufwand verbunden und es wird sich wahrscheinlich niemand finden, der bereit ist, die Haftungsrisiken zu übernehmen. Wird die Abhängigkeit der EU von Russland im Bereich der Kernenergie bisher unterschätzt? Europa ist auch bei der Kernenergie stark von Russland abhängig, vielleicht sogar noch stärker als beim Gas. Die Hauptquellen der Uranimporte in die EU waren 2020 Russland mit 20 Prozent, Niger mit 20, Kasachstan mit 19, Canada mit 18, Australien mit 13 und Namibia mit 8 Prozent. Nur 0,5 Prozent des in der EU eingesetzten Urans stammen aus der EU selbst. Doch das sieht nur scheinbar diversifiziert aus. Russland ist mit Kasachstan eng verbunden, die Minen in Niger gehören Firmen in chinesischem Staatsbesitz, das gilt auch für zwei der drei größten Uranbergwerke in Namibia. Die dritte namibische Mine ist überwiegend in chinesischem Eigentum. Damit kamen 2020 nur 21 Prozent der Uranimporte nach Europa von Firmen, die nicht im Staatsbesitz totalitärer Regime sind. Europa hat sich auch hier in eine hohe Importabhängigkeit begeben. Etwa ein Viertel der Urananreicherung und Teile der Brennelementfertigung für die EU erfolgt in Russland. Viele Reaktoren russischer Bauart beziehen ihre Brennelemente auf Basis langfristiger Lieferverträge über zehn Jahre oder mehr hauptsächlich vom russischen Konzern TVEL (oder auch TWEL), der zu Rosatom gehört. Russische Kernreaktoren stehen in Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn und der Slowakei. Die 16 älteren Druckwasserreaktoren des Typs WWER-440 sind bei der Brennstoffherstellung vollständig von TVEL abhängig. Solche alten Reaktoren stehen in Bulgarien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Diese Abhängigkeit betrachtet selbst die Europäische Nuklear-Versorgungsagentur (Euroatom-ESA) als signifikante Verwundbarkeit. Hier sind die Betreiber auch auf den Import von russischer Technik angewiesen. Aber auch die westeuropäischen AKWs sind nicht unabhängig. Der französische Konzern Areva arbeitet mit TVEL zusammen, um Brennelemente für sieben Reaktoren in Westeuropa zu liefern, etwa für das finnische AKW Loviisa. Noch im Dezember 2021 hat der französische Nuklearkonzern Framatome ein strategisches Kooperationsabkommen unterzeichnet für die Entwicklung der Brennstoffherstellung, die Instrumentierung und Kontrolle. Der russische Brennelementehersteller TVEL wollte auch in die Brennelementfabrik in Lingen einsteigen, welche der französischen Firma ANF gehört. Lingen beliefert britische, französische und belgische Kernkraftwerke mit Brennelementen. Das Bundeskartellamt hatte diesen Einstieg im März 2021 genehmigt, danach prüfte das Wirtschaftsministerium mit offenem Ausgang bis Ende Januar 2022. Am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine hat das Wirtschaftsministerium bekannt gegeben, dass die Rosatom-Tochter TVEL ihren Antrag zurückgezogen habe. In Deutschland besitzt die Rosatom-Gruppe außerdem ihre Tochtergesellschaft NUKEM Technologies, die auf die Stilllegung kerntechnischer Anlagen, die Dekontamination, die Abfallverarbeitung und den Strahlenschutz spezialisiert ist. Sie plant und baut in Deutschland Lagergebäude für radioaktive Abfälle und ist am Rückbau der AKWs in Neckarwestheim und sowie Philippsburg beteiligt. Putin hat also längst auch die europäische Nuklearindustrie von Russland abhängig gemacht und verdient selbst an der Stilllegung der deutschen Kernkraftwerke. Der Unterschied ist nur, dass die Abhängigkeit beim Gas öffentlich diskutiert wird, bei der Kernenergie bisher kaum. Doch die Mitgliedstaaten der EU denken gar nicht daran, diese nukleare Abhängigkeit zu beenden. Die zivilen nuklearen Aktivitäten wurden vom Verbot für Investitionen im russischen Energiesektor im Beschluss der Mitgliedstaaten vom 15. März 2022 über die Definition des Energiesektors explizit ausgenommen. Obwohl das Uran vollständig importiert wird und auch ein großer Teil der Brennelemente eingeführt wird, stuft die EU die Kernenergie als "einheimische" Produktion ein, weil die Brennelemente gut bevorratet werden könnten. Hier findet sich ein ähnlicher orwellscher Sprachgebrauch wie bei der EU-Taxonomie, die die Kernenergie als Technologie ohne signifikante Umweltschäden einstuft. Wie die Süddeutsche Zeitung am 18. März 2022 berichtete, wurde sogar das Flugverbot für russische Fluggesellschaften in der EU für einen Flug für den Import von Kernbrennstoff in die Slowakei aufgehoben. Unser Fazit zum Thema ist deshalb: Auch bei der Kernenergie muss die Abhängigkeit von Russland drastisch reduziert werden. Versorgungssicherheit ohne Abhängigkeit von totalitären Regierungen erfordert eine deutliche Reduktion der Kernenergie in Europa. Wie machen wir uns langfristig vom Erdgas unabhängig? Deutschland hat sich entschlossen, bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu werden. Das bedeutet, dass langfristig die fossilen Energien vollständig durch erneuerbare Energien ersetzt werden, dass künftig überhaupt viel weniger Energie verbraucht werden darf und dass weitere Alternativen klimaschädliche Treibhausgase einsparen müssen. Diese große Umwälzung betrifft nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens: ob Wärmepumpen und Fernwärme auf Basis erneuerbarer Energie fürs Heizen, die Sanierung von Gebäuden, Elektroautos statt Verbrenner, ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr oder der Ausbau der Bahn. All das und noch viel mehr trägt dazu bei, dass wir unabhängiger von Importen von Öl und Gas werden und stärkt unsere Souveränität. Hier ist allerdings noch viel zu wenig passiert und die Politik ist gefordert, jetzt schnell die notwendigen Richtungsentscheidungen zu treffen. Anke Herold ist Geschäftsführerin des Öko-Instituts. Sie war Verhandlungsführerin für die EU bei den internationalen Klimaverhandlungen unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die internationale, europäische und nationale Klimapolitik. Dr. Roman Mendelevitch ist Experte für Energiesystem- und Strommarktmodellierung am Berliner Standort des Öko-Instituts. Er entwickelt Szenarien zur zukünftigen Stromerzeugung und entwirft marktbasierte Instrumente der Klimapolitik. Dr. Christoph Pistner leitet den Bereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung von kerntechnischen Anlagen. Er ist zudem stellvertretender Vorsitzender der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.
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