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Jemand hatte sie mehrfach angekündigt: Die politische Entscheidung, die den 2001 begonnenen Göteborg-Prozess fortsetzen und die Generationengerechtigkeit zur europäischen Richtschnur machen sollte. Die Entscheidung: Die überarbeitete EU-Nachhaltigkeitsstrategie (EU-SDS); der Jemand: Romano Prodi. Die Nachhaltigkeitsgemeinde war in froher Erwartung. Ja, man kann sagen, dass die frohe Erwartung erst eine Gemeinschaft hervorbrachte. Bei Konferenzen in Wien und Den Haag 2002 und 2003 bildete sich das spätere European Sustainable Development Network (ESDN) heraus, das Ministerialbeamten der Mitgliedsstaaten zusammenbringt, die für Nachhaltigkeit und für Europa-Koordination zuständig sind. Die europäischen Umwelträte - meist wissenschaftlich ausgerichtete Beratungsgremien der Umweltminister(innen) - nahmen in ihr Netzwerk (European Environmental Advisory Councils, EEAC), das eine längere Tradition des Miteinander hat, nunmehr im Zuge von Johannesburg und Göteborg auch die neu entstehenden, unabhängigen Nachhaltigkeitsräte der Mitgliedsstaaten auf, die ihrerseits eher auf Stakeholder ausgerichtet sind. Eine neuartige, hin und wieder auch spannungsreiche Kombination war entstanden. Gemeinsamer Aktionspunkt: Die europäische Nachhaltigkeitsstrategie. Eine interessante Gemeinde also, vielleicht sogar ein Stück europäischer Polis, das sich um den strategischen Kern der EU-SDS zu scharen begann, während es diesen Kern eigentlich noch gar nicht gab. Im Mai 2004 berichtete eine hochrangige Beratergruppe des Kommissionspräsidenten, die sogenannte Strauss-Kahn-Gruppe, an Prodis Kommission und forderte einen "neuen Mythos" für Europa, den sie eng mit dem "Projekt Nachhaltigkeit" verband. Bisher sei der Wille zu einem solchen Projekt, so der Bericht, im Nebeneinander der Kommissionsmitteilungen und Ratsbeschlüsse überhaupt nicht zu erkennen. Sehr Ähnliches formulierten EEAC-Mitglieder zeitgleich auf einer Konferenz in Irland in der Stellungnahme "Kinsale Challenge". Eine überarbeitete Strategie, so die einhellige Erwartung und Hoffnung, würde die Rolle von Steuern und Fonds, von Innovationen und Richtlinien bei der nachhaltigen Entwicklung Europas grundsätzlich klären müssen - und auch das Verhältnis von Göteborg- und Lissabon-Prozess. Im Abfalleimer der Geschichte Der Strauss-Kahn-Bericht verschwand im Papierkorb der Kommission. Nicht einmal eine informative Pressemitteilung gab es. Möglicherweise hatten starke Spannungen innerhalb der Expert(inn)engruppe selbst - in der so unterschiedliche Persönlichkeiten saßen wie der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer und der Literatur-Nobelpreisträger José Saramago - dazu beigetragen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass die Vorbereitungen für den Kommissionswechsel von Prodi zu Barroso einen solch verpflichtenden Ratschlagskatalog wie den Strauss-Kahns nicht gerade gelegen kommen ließen. Denn José Manuel Barroso ließ schon lange vor seinem Amtsantritt im November 2004 keinen Zweifel daran, dass er ein Mann "Lissabons" im doppelten Sinne sein würde. Nicht nur der Herkunft her, sondern von dort brachte er auch seine auf "Arbeit und Wachstum" fixierte Agenda mit. Ein Denken über 2010 hinaus? Wertbindung von Innovationspolitik? Wohlstand jenseits des Bruttoinlandsprodukts? Globale Verantwortung? Solche Töne überdeckte der neue Präsident mit seinem Diktum von den drei Kindern Ökologie, Ökonomie und Soziales, von denen eines - die Ökonomie - krank sei und daher besonderer Aufmerksamkeit der Eltern bedürfe. Nicht viel besser als dem Strauss-Kahn-Bericht erging es den Ergebnissen der während Prodis letzter Amtswochen durchgeführten öffentlichen Konsultation zur EU-SDS. Zwar konnte man diese nicht einfach so verschwinden lassen; sie finden sich fein säuberlich dokumentiert auf den Seiten der Kommission. Einen politischen Anschluss daran aber gab es vorerst nicht. Pünktlich zur Amtseinführung Barrosos wies ihn das EEAC öffentlich auf die Chancen des Überprüfungs-Prozesses und drängende Sachfragen hin. Die Reaktion war zunächst: Hinhalten. Rede von Forgottenburg Begonnen hatte, bereits ein ganzes Weilchen vor seinem Amtsantritt, das "Warten auf Barroso". Genauer: auf die Vorlage der Kommission zur erneuerten Strategie. Aber einen Unterschied zu Becketts Godot, der offenbar nur eine vage, ja vielleicht sogar keine Versprechung gemacht hat, gab es für das Warten auf die Strategie eine gesunde Grundlage. Denn: Wie machtlos europäische Dokumente hin und wieder auch sein mögen, sie sorgen für Arbeit in den Institutionen. Und das ist nicht zynisch gemeint. Eines der besten Elemente des Göteborg-Prozessstarts von 2001 mag es, retrospektiv betrachtet, gewesen sein, dass er die eigene Erneuerung klar und unzweideutig zum Auftrag der Kommission machte. Darüber konnte auch Barroso sich nicht hinwegsetzen. Das Warten erzeugte Kalauer. Von "Forgottenburg" war im EEAC die Rede, davon, dass die Kommission die Impulse der Göteburg-Strategie von 2001 vergessen hatte. Letztlich kam sie aber doch, die Erneuerung. Freilich anderthalb Jahre später als vorgesehen, im Juni 2006. Barroso persönlich kam sogar früher. Und zwar zum EU-SDS-Stakeholder-Forum in Brüssel, das eine altehrwürdige, nun aber im Zeichen Lissabons politische Morgenluft witternde Institution, nämlich der Europäische Wirtschafts- und Sozialrat (WSA), im April 2005 im Auftrag der Kommission ausrichtete. Die über 200 im Open Space versammelten Teilnehmer stammten aus so diversen Kontexten, dass die Rede von der "Community" schon fast übertrieben wirkt. Von der Luxemburgischen Präsidentschaft bis zum Land Nordrhein-Westfalen; von RWE bis hin zur Eurogroup for Animal Welfare reicht die Spanne der Repräsentanten. Die WSA-Präsidentin Anne-Marie Sigmund oder deren EU-SDS-Rapporteur, WSA-Mitglied Lutz Ribbe, versuchte klarzumachen, dass Göteborg und Lissabon nicht nur Verbündete seien, sondern Teilmengen, und zwar Lissabon (Wettbewerbsfähigkeit) von Göteborg (Nachhaltigkeit), nicht umgekehrt. Desinteresse, misstrauische Beobachtung oder gar harte Gegenargumente kamen aus der Brüsseler Wirtschaftslobby, oft getragen von dem (falschen) Argument, dass Nachhaltigkeit nichts anderes sei, als Umweltpolitik mit Übermaß - aber José Manuel Barroso stieß auf der Tagung ins gleiche Horn wie Sigmund. Die Lissabon-Ziele - auf dem Frühjahrs-Gipfel 2005 mittlerweile zurückgeschraubt - seien nur als ein Beitrag der nachhaltigen Entwicklung untergeordnet; die Notwendigkeiten des Umweltschutzes und des sozialen Zusammenhalts ihrerseits seien Gelegenheit für Innovation und Beschäftigung. Die Nachhaltigkeitsstrategie brauche zudem ihre eigenen "Zähne" (Ziele, Indikatoren und Deadlines) und müsse etwa in der Mobilitätspolitik endlich klare Verbindlichkeiten zur Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Verkehrsaufkommen schaffen. Verfassungsdebakel als Denkpause Worte, die allen Anwesenden wieder Hoffnung machten, Prodis und Barrosos Versprechen werde nun doch bald eingelöst. Zu früh gefreut. Gerade das Beispiel der Mobilitätspolitik wirkt im Nachhinein besonders pikant, denn das revidierte Weißbuch Mobilität, kurz nach Verabschiedung der EU-SDS durch den Europäischen Rat erschienen, sollte das erste krasse Beispiel dafür liefern, wie wenig die Ziele der Strategie nach wie vor in den Sachpolitiken und bei den Generaldirektoraten der Kommission ankommen. Auch Margot Wallström, auf dem Stakeholder-Forum erstmals in ihrer neuen Rolle als Kommunikationskommissarin zu erleben, lieferte Worte statt Taten. Die einst so engagierte Umweltkommissarin und zentrale Akteurin des Göteborg-Prozesses vermochte es nicht, den wenige Monate später präsentierten "Plan D" (Demokratie, Dialog, Debatte) mit der Idee der nachhaltigen Entwicklung auch nur ansatzweise zu verknüpfen. Das Debakel um die europäische Verfassung fiel mitten in jenes Jahr des Wartens. Dass niemand im Rat, niemand in der Kommission, niemand im Parlament (das dem Prozess der Strategieüberprüfung bis fast ganz zuletzt fernblieb) dieses Debakel mit der Ausgelaugtheit alter Identifikationsmuster ("europäisches Sozialmodell") im Angesicht der Globalisierung in Zusammenhang brachte, ist erstaunlich. Dass niemand nach einem neuen Leitbild - etwa dem von Rio - tastete, erstaunt zwar den Insider nicht wirklich, ist vom politischen Standpunkt aus betrachtet umso ärgerlicher. Als eine "Denkpause" des politischen Europa diagnostizierte der deutsche Rat für Nachhaltige Entwicklung die Warteschleife eher vorsichtig in seiner Stellungnahme zum Kommissionsentwurf der neuen Strategie. Wie tief diese Pause gewesen ist, werden die Bemühungen der deutschen Präsidentschaft um die Verfassungsfrage zeigen. Der EEAC war unterdessen nicht untätig. Wir legten eine Bestandsaufnahme nationaler Nachhaltigkeitsstrategien vor ("Sustaining Sustainability"), was uns nicht nur das Warten auf Barroso versüßte, sondern auch interessante Ideen zur Umsetzung und zur Überprüfung einer neuen Strategie lieferte. Diese Ideen konnten wir an die Kommission weiterleiten. Manchmal hilft bei so etwas auch der Zufall einer guten Terminplanung. Als die Task Force zu Lissabon und Nachhaltiger Entwicklung im November 2005 in den letzten Zügen ihrer Textarbeit lag, konnten einige Dinge persönlich an die Frau und den Mann gebracht werden. Resultat ist letztlich, dass die Passagen der neuen Strategie, die sich zu Governance, dem Monitoring und zur Aufgabe von Nachhaltigkeitsräten äußerten, zu den innovativeren Teilen der neuen Nachhaltigkeitsstrategie gehören. Später Lohn Die ehrgeizige und fleißige österreichische Ratspräsidentschaft hatte es sich zur Priorität gemacht, das Warten zu beenden. Sie hat versucht, die Strategie substanziell anspruchsvoller zu machen. Immerhin ein neues Ziel (zur öffentlichen Beschaffung) hat sie verankert. Dass die Mehrzahl der Ratsformationen (bis hin zum Wettbewerbsrat) mit der Nachhaltigkeitsstrategie befasst wurde, ist richtig gewesen, hat aber letztlich auch eine gewisse blockierende Wirkung gehabt. Und die Kommission hat ihren eigenen Indikatorensatz in letzter Minute von einem prominenten Platz wieder in den entlegenen Hintergrund des Textes verbannt. Errungenschaften bleiben ein zwar nicht langfristig genug ausgerichtetes, aber alles in allem doch Möglichkeiten eröffnendes Energiekapitel sowie der Fakt, dass es überhaupt endlich eine einheitliche Strategie gibt. Dieser Fakt ist nicht trivial. Sogar das richtigerweise notorisch unzufriedene Europäische Umweltbüro hat ihn betont. Das EEAC - zum ersten Mal überhaupt in einem offiziellen europäischen Dokument erwähnt - hat die Beteiligung der Zivilgesellschaft in die Strategie wesentlich mit eingebracht. Und auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und das ESDN haben nun eine fest verankerte Rolle im Monitoring-Prozess der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Das also immerhin hat uns das Warten auf Barroso gebracht. Es hat einen Teil der Verantwortung in unsere Hände gelegt. Dafür, dass das die erneuerte Nachhaltigkeitsstrategie nicht wieder nur ein hehrer Text bleibt. Kontakt Dr. Günther Bachmann Manuel Rivera Rat für Nachhaltige Entwicklung beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH E-Mail: guenther.bachmann@nachhaltigkeitsrat.de, manuel.rivera@nachhaltigkeitsrat.de wwww.nachhaltigkeitsrat.de Erschienen in politische ökologie 102/103: "Grünbuch Europa. Von nachhhaltigen Visionen und umweltpolitischen Realitäten" www.oekom.de/nc/zeitschriften/politische-oekologie/aktuelles-heft.html
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