Ein Service von
www.ECO-World.de
 ECO-News - die grüne Presseagentur
Presse-Stelle:  oekom verlag, D-80337 München
Rubrik:Umwelt & Naturschutz    Datum: 21.10.2005
Die vierte Dimension der Nachhaltigkeit
Landschaft, die vertraute Natur
Ob im Alltag oder bei der Urlaubsplanung - Landschaft berührt die Menschen. Als ästhetischer Zugang zur Natur ermöglicht sie Vertrautheit mit einer Region, Erholung und Kontemplation. Eine Chance für Naturschutz und nachhaltige Entwicklung.

Von Norbert Wiersbinski

Am Anfang der Natur- und Heimatschutzbewegung vor rund 120 Jahren dominierte eine kulturelle Begründung, warum Natur als Landschaft zu schützen sei. Es ging um die vertraute, über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft, die durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung zunehmend bedroht wurde. Landschaft war in dieser Entstehungsphase des Naturschutzes ein Sinnbild, für die ersehnte Harmonie von Mensch und Natur. Auch das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 wurde noch stark ästhetisch-kulturell begründet. Nachdem die Nazis den Natur- und Heimatschutz für ihre Blut- und Bodenideologie vereinnahmt und missbraucht hatten, waren kulturelle Naturschutzbegründungen - und hier insbesondere das Thema Heimat - diskreditiert. Daher setzte der Naturschutz in seiner Argumentation zunehmend auf die Ökologie als neu entstehende Wissenschaft. Diese Tendenz verstärkte sich in den 1970er-Jahren durch die Wahrnehmung einer weltweiten Umweltkrise. Die Gefährdung und Zerstörung der physischen Lebensgrundlagen führte zur ökologischen Landschaftsplanung und zu einer anderen Sicht auf Landschaft. Landschaft wurde nun zum Naturhaushalt, zum ökosystemaren Dienstleister, zur physischen Existenzgrundlage. Die Bundesnaturschutzgesetze von 1976 und 2002 sind geprägt durch eine weitgehend ökologische und ökonomische Ausrichtung, auch wenn 2002 der Schutz der Natur um ihrer selbst willen neu in den Gesetzestext aufgenommen wurde. Die ästhetisch-kulturelle Seite fand Eingang im § 1 des Gesetzes, mit der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Metapher von der "Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft".

Gesteigertes Wohlsein

Der Bedeutungswandel der Landschaft vom Ideal zum Funktionsträger hatte seinen Preis für den Naturschutz. Die Auswirkungen lassen sich auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene wahrnehmen. Auf der individuellen Ebene ist Landschaft auch heute noch für viele Menschen der wichtigste sinnliche und emotionale Zugang zur Natur. Artenkenntnis oder gar Wissen um ökologische Zusammenhänge ist nur bei wenigen vorhanden. Naturschutzakademien und Ökologiezentren bemühen sich, daran etwas zu ändern. Sie erreichen aber nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung - bei aller Wertschätzung und allen Erfolgen dieser Bildungsarbeit in Sachen Natur. In Schule und Gesellschaft steht das Wissen von der Natur in starker Konkurrenz mit anderen Bildungs- und Informationsangeboten, die in der heutigen Wissensgesellschaft wichtig sind. Die Lebens- und Erfahrungswelt von Kindern und Erwachsenen zeichnet sich nicht zuletzt durch eine große Naturferne aus. Entfremdung wäre eine dafür zutreffende Bezeichnung.

Über Landschaft hingegen finden viele einen leichteren Zugang zur Natur. Sie stiftet Identität mit einem Ort oder einer Region und ist eine wichtige Quelle für Heimatgefühle und Vertrautheit mit einer gewohnten Umgebung. Der Naturforscher und Naturliebhaber Goethe hat die Wirkung der Thüringer Kulturlandschaft auf den Menschen als "gesteigertes Wohlsein" bezeichnet. Die Landschaftserfahrung der Kindheit prägt oft für das ganze weitere Leben die Vorliebe für eine bestimmte Landschaft. Es geht um die ästhetischen Aspekte der Naturerfahrung und die Anmutungsqualität der Landschaft für den Erholungssuchenden. Auch die Liebe zu einer Landschaft hat an dieser Stelle ihren gebührenden Platz.

Auf der individuellen Ebene muss man sich um den Stellenwert der Landschaft nicht all zu viele Sorgen machen. Sie gehört zur Alltagswelt des Menschen, ist ohnehin immer da. Selbst der naturferne Großstädter sucht sie am Wochenende und im Urlaub auf. Liest man Befragungen von Reiseveranstaltern, dann sind "schöne Landschaften" sehr wichtig für die Wahl des Urlaubsortes. Was läge also näher, als diesen Zugang für die Anliegen des Naturschutzes stärker nutzbar zu machen? Doch so einfach ist das nicht, weil man damit auf die gesellschaftliche Ebene gerät.

Halbierter Naturschutz

Die weitgehende Ausblendung und Verdrängung der ästhetisch-kulturellen Begründungen beschneidet die Möglichkeiten, mit ihnen gesellschaftlich zu operieren. Werner Nohl spricht in diesem Zusammenhang von einem "halbierten Naturschutz". Ein einfaches Lamento über diese Situation greift dennoch zu kurz, weil es gute und starke Gründe für diese Entwicklung gibt. Sie liegen in der Moderne und in der Demokratie selbst.

Politische Entscheidungen - auch in der Naturschutzpolitik - sind heute sachlich und fachlich fundiert zu begründen. Die Daten dafür liefert die Wissenschaft. Tiere, Pflanzen und Biotope werden beobachtet, untersucht und erfasst. Ihr Gefährdungsgrad, ausgewiesen in roten Listen, ist häufig das Argument, das in der Politik und im Streitfall vor Gericht wirklich belastbar ist. Deshalb wird es auch vorrangig genutzt, um Schutzzwecke zu begründen. Unabweisbar hat die Wissenschaft zur Versachlichung von Entscheidungen geführt. Die Ökologie liefert Erkenntnisse, die operationalisierbar sind. Dies ist bei Eigenart oder Schönheit schon methodisch nicht möglich. Wo es versucht wird, wie in der Landschaftsbildanalyse, gerät man schnell an Grenzen. Die Berufung auf persönliche Vorlieben, auf die Tradition oder transzendente Gründe trägt in einer Demokratie nicht mehr sehr weit.

Wir haben es hier mit einem Dilemma und einem Widerspruch zu tun. Will man auf die produktive und motivierende Kraft der kulturellen Dimension nicht verzichten, muss man sich diesen Widerspruch bewusst machen, ihn aushalten und öffentlich machen. In einer demokratischen Gesellschaft sind Abwägungsentscheidungen mit anderen Gütern, Werten oder Interessen zu treffen. Nur selten haben wir in unserem dicht besiedelten Land die komfortable Lage, dass niemand anderes Ansprüche an eine Fläche stellt. Spätestens bei der Frage, warum und mit welchem Aufwand etwas geschützt werden soll, kommen ästhetische, ethische und kulturelle Werte wieder ins Spiel. Sie sind oft die eigentlichen Gründe für die Schutzbemühungen und finden sich im persönlichen Engagement vieler Naturschützer(innen) als stärkstes Motiv wieder.

Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Durch das mögliche Aussterben der Störche würde ein Ökosystem nicht zerstört. Aber es würde etwas fehlen, wenn sie nicht mehr da wären, denn sie werden von vielen Menschen geliebt. Zu ihrer Heimat, ihrer vertrauten Landschaft gehören Störche. Der Naturschutzbund (NABU) hat nicht zuletzt wegen dieser positiven Emotionen den Storch als "Wappentier" gewählt. Eine Naturschutzverwaltung würde hingegen im Klagefall vor Gericht hauptsächlich ökologisch argumentieren - mit der Zerstörung der Feuchtwiesen, der Gefährdung der Nahrungsgrundlage durch die geplante Straße und, dass Störche heute selten geworden sind. Für den Schutz der Vögel ließe sich möglicherweise mehr erreichen, wenn die ästhetischen und kulturellen Gründe für den Schutz der vertrauten Landschaft (einschließlich der Liebe für die symbolträchtigen Tiere) benannt würden. Im ehrenamtlichen Naturschutz wird bisweilen so argumentiert.

Liegt hier eine der Ursachen für das gesellschaftliche Akzeptanzdefizit und die häufige Begründungsnot des Naturschutzes bei Interessenskonflikten mit Nutzern? Benutzen wir die falschen Argumente, wenn wir andere von unserem Anliegen überzeugen wollen?

Reduziert sich der (amtliche) Naturschutz selbst in seiner Argumentation, weil er allzu oft nur mit ökologischen Argumenten kommt? Zumal die Ökologie als reine Wissenschaft nur Zustände beschreiben, aber keine normativen Aussagen für Naturschutzbegründungen liefern kann.

Die wahren Gründe nennen

Wenn Naturschutz eine Kulturaufgabe ist, wirkt es nicht sehr überzeugend, dass auf die kulturelle Dimension verzichtet wird (obwohl diese immer gegenwärtig ist) und so der falsche Eindruck entsteht, Naturschutz sei doch nur angewandte Ökologie. Ein Naturschutz, der die "wahren" Gründe für sein Handeln benennt, könnte an Glaubwürdigkeit gewinnen und würde die Menschen besser in ihrer Alltagswelt erreichen, zu der wesentlich die Landschaft gehört. Es geht dabei nicht um "Landschaftskult" im Sinne von irgendetwas Gefühligem, gar Esoterischem, sondern um eine zeitgemäße, reflektierte Nutzbarmachung der Idee der Landschaft für ein gutes Leben. Die Verknüpfung mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs, insbesondere seiner kulturellen Dimension, wäre eine solche Perspektive. Das Paradigma der nachhaltigen Entwicklung braucht dringend eine Erweiterung um ästhetische Zugänge. (1) Diese berühren den Alltag der meisten Menschen direkter und sinnlicher als abstrakte Prinzipien. Die Landschaft ist nicht nur physische, sondern in starkem Maße psychische Lebensgrundlage. Mit ihr kann man sich identifizieren, sich in ihr zu Hause fühlen.


Anmerkungen

(1) politische ökologie 69 (2001): LebensKunst. Auf den Spuren einer Ästhetik der Nachhaltigkeit. München.


Zum Autor

Norbert Wiersbinski, geb. 1953, studierte Agrarwissenschaften. Er ist seit 13 Jahren beim Bundesamt für Naturschutz als wiss. Mitarbeiter in der Internationalen Naturschutzakademie tätig. Vorher war er unter anderem Studienleiter in einer Ev. Akademie und Betriebsleiter eines Saatzuchtunternehmens.


Der Artikel ist erschienen in

politische ökologie 96: Landschaftskult. Natur als kulturelle Herausforderung.
oekom verlag, München Oktober 2005, 80 Seiten, 12,00 Euro, 19,20 sFr.,
ISBN 3-86581-003-9, ISSN 0947-5028
Mit Beiträgen von U. Eisel, S. Körner, W. Nohl, G. Hard, W. Haber, R. Piechocki, L. Trepl, A. Voigt u.v.m.

Erhältlich im Buchhandel,
unter www.oekom.de/zeitschriften/politische-oekologie
oder bei Rhenus Medien Logistik GmbH & Co. KG,
Justus-von-Liebig-Str. 1,
86899 Landsberg am Lech
Fon +49/81 91/125 -378, Fax +49/81 91/125 -103

Für Rückfragen und druckfähiges Titelblatt:
Stefanie Gritsch, oekom verlag, E-Mail: gritsch@oekom.de
Waltherstraße 29, 80337 München,
Fon +49/89/54 41 84 -25, Fax -49





Lesen Sie weiter auf www.ECO-World.de, dem Portal für ein bewusst genussvolles Leben & ökologisch nachhaltiges Handeln.