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Energie & Technik   
"Die Dörfer sind leer, die Friedhöfe leben"
Warnschild Sperrgebiet © Korneliusz Konsek
Zum Gedenken an den Super-GAU in Tschernobyl, der sich am 26. April zum 25. Mal jährt, hat der Steyler Missionar Bruder Korneliusz Konsek eine Fotoausstellung konzipiert: "Der Name des Sterns ist Wermut". Unter anderem wird sie an der Kardinal-Wyszynski-Universität in Warschau gezeigt. Markus Frädrich hat Bruder Konsek zu seiner Reise ins atomare Sperrgebiet befragt.


Bruder Konsek, wie kamen Sie auf die Idee, der Tschernobyl-Katastrophe eine Fotoausstellung zu widmen?
Die Idee kam auf, als ich die Journalistin Nina Rybik kennenlernte. Sie stammt aus dem weißrussischen Astravec und leitet dort die Regionalzeitung "Astraveckaya Prauda". Aufgewachsen ist sie im Dorf Ulasy, etwa acht Kilometer vom Tschernobyl-Reaktor entfernt. Eine Woche nach dem Super-GAU wurde sie mit ihren Eltern und ihren beiden Kindern zwangsumgesiedelt. 1987 und im Jahr 2000 war es ihr möglich, ihr Heimatdorf zu besuchen. 2010 ist sie für eine Reportage zum dritten Mal in die Region gefahren. Ich habe sie begleitet.

Was ist von Ulasy übrig geblieben?
Wenn man ein umgesiedeltes Dorf betritt, fühlt man sich wie im Reich der Toten. Die Straßen sind mit Gras bewachsen, die Häuser sind über die Jahre hinweg verfallen oder wurden von Plünderern zerstört. Zäune sind umgefallen. Man sieht überall, dass die Menschen als Reaktion auf die Tragödie alles haben stehen und liegen lassen. Sie sind fluchtartig aufgebrochen, im Glauben, nach ein paar Tagen wieder zurückkehren zu dürfen. Doch die Rückkehr blieb ihnen verwehrt. Bei Frau Rybik sind sehr viele Erinnerungen hochgekommen, etwa, als wir jenen Ort in Ulasy besucht haben, an dem sie ihren Mann kennengelernt hat, oder als wir in einem Raum ein marodes Kinderbettchen ausfindig gemacht haben, das einst ihren eigenen Kindern gehörte. In dieser allgemeinen Verwüstung ist übrigens der Friedhof der einzige Ort, an dem man Leben antrifft: Neu lackierte Kreuze, helle bunte Kränze und Sträuße auf den Gräbern sind das einzige Zeichen menschlicher Existenz. Es ist paradox: Die Dörfer sind verkommen und leer, die Friedhöfe leben.

Wie kommt das?
Viele der Ausgesiedelten wollen in ihrer alten Heimat begraben werden. Dazu kommt, dass die ehemaligen Bewohner von Ulasy nur einmal im Jahr, zum Radunitsa-Fest, das die orthodoxen Christen als Osterfest für die Toten feiern, zu den Gräbern ihrer Verwandten und den verlassenen Häusern kommen dürfen, in denen sie viele Jahre lang gelebt hatten. Dieser Tag ist der Gedenktag für die Toten und der einzige, an dem ehemalige Bürger Zugang zu dem Sperrgebiet erhalten, das von Stacheldraht und Kontrollposten umgeben ist.

In Tschernobyl selbst haben sich aber doch inzwischen wieder Menschen niedergelassen.
Es gibt rund 250 Bewohner - Einheimische, die nach der Evakuierung zurückgekehrt sind. Einige nach einem Monat, die anderen nach ein paar Jahren. Auf den Straßen in den Wohnvierteln, wo die meisten Häuser verlassen und von unpassierbar hohem Gras und Unkraut zurückerobert worden sind, kann man auch die gepflegten, neu gestrichenen und sauberen Häuser mit fröhlichen Vorhängen an den Fenstern sehen. In ihnen hängen merkwürdige Schilder mit der Aufschrift "Hier wohnt der Besitzer." Unser Reiseführer hat uns erklärt, dass man sie wegen der Obdachlosen aufstellt, von denen es hier viele gibt.

Sie haben versucht, die Stimmung der Sperrzone in Bildern einzufangen. Welches Ihrer Motive halten Sie für besonders gelungen?
Das entsprechende Bild habe ich vom Dach des Hotels "Polesie" in Pripjat gemacht. Vor dem Unfall im Atomkraftwerk war die Stadt eine der jüngsten und schönsten Städte in der Ukraine. Heute ist sie eine tote Stadt, in der Wildwuchs die riesigen, neun- bis 16-stöckigen Gebäude überwuchert. Das Foto zeigt ein Graffiti an einer Wand: Ein schreiendes Kind. In der Ferne kann man das Atomkraftwerk sehen. Wer immer dieses Graffiti gemacht hat: Er hat die Tragödie packend und einfach dargestellt. Man kann die Panik nachvollziehen, die damals unter den Bewohnern der Stadt geherrscht hat. Fast 50.000 Menschen, die am 27. April 1986 für immer evakuiert wurden.

Rufen die aktuellen Fernsehbilder aus Fukushima in Ihnen Erinnerungen wach?

Ich habe das Gefühl, dass die Bilder vom selben Atomkraftwerk kommen - die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich. Wenn ich die verzweifelten Versuche der Japaner sehe, Herr der Lage in Fukushima zu werden und das Reaktorleck zu schließen, muss ich an die so genannte "Mauer der Erinnerung" in Tschernobyl denken: Dreißig Granitplatten, dreißig Namen, dreißig Tage im Leben jener 20- bis 30-jährigen jungen Männer. Nach dem Unfall überlebten sie lediglich ein paar Tage, maximal drei Wochen. Sie starben unter schrecklichen Qualen und ihre Kleidung und Wundverbände wurden als radioaktiver Abfall entsorgt. Man wird diese dreißig Männer, die für das Heil der Welt mit ihrem eigenen Leben bezahlt haben, nicht vergessen. Und wer kennt die Namen derer, die von April bis Mai 1986 den zerstörten Reaktor gelöscht haben und die vom Hubschrauber aus mit bloßen Händen Sandsäcke in den Reaktor geworfen haben, acht bis zehn pro Flug? Sie flogen 30 bis 35 Einsätze pro Tag und waren immens hoher Strahlung ausgesetzt. Offiziellen Statistiken zufolge starben in der Zeit nach der Katastrophe von Tschernobyl rund 300.000 Menschen. Tatsächlich jedoch waren es noch viele mehr, wenn man an die Spätfolgen denkt.

In welchem Zustand ist der Reaktor in Tschernobyl heute?
Zurzeit wird die so genannte "Abdeckung 2" gebaut. Die erste, die direkt nach dem Unfall errichtet wurde, ist in einem äußerst desolaten Zustand. Letztes Jahr wurde der "Sarkophag" stabilisiert, indem man das Dach und die Westmauer verstärkte. Nun aber benötigt man eine neue, zuverlässigere Abdeckung. Ein weiteres Ziel ist es, ein Lager für Kernbrennstoffe zu bauen. Der letzte Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl wurde im Dezember 2009 gestoppt. Es ist geplant, das gesamte Kraftwerk bis 2016 komplett zu schließen. Noch heute sind etwa 3.500 Menschen in diesem eigentlich stillgelegten Kraftwerk beschäftigt und unterstützen die Gewährleistung eines sicheren Zustandes der Anlage. Das Dosimeter zeigte uns vor Ort, dass die Strahlung des radioaktiven Untergrunds mehr als zweihundert Mikro-Röntgen pro Stunde beträgt.

"Der Name des Sterns ist Wermut": Worauf bezieht sich der Name Ihrer Ausstellung?
Der Name des Unglücksorts Tschernobyl, der eigentlich Beifuß bedeutet, wird oft irrtümlich mit Wermut übersetzt. Die Verwechslung führte unter anderem zu der populären Anschauung, die Reaktorkatastrophe sei in der Johannesoffenbarung vorausgesagt worden: "Und der dritte Engel posaunte; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut und viele Menschen starben von den Wassern, denn sie waren bitter geworden." Auch wenn das Wortspiel auf einer Fehlübersetzung beruht, kann man die Atomkraft doch symbolisch mit einem Stern vergleichen, der vom Himmel fiel - und zwar nicht alleine, sondern in Bewegung gesetzt von Menschenhand. Es macht uns in trauriger Weise bewusst, wie begrenzt unsere Freiheit in der Suche nach technologischem Fortschritt wirklich ist. Wir alle sind dazu aufgerufen, mehr Verantwortung für unsere Umwelt zu übernehmen.

Wo und wann ist Ihre Ausstellung zu sehen?
Die Fotoausstellung ist derzeit in Warschau zu sehen, in der Kardinal-Wyszynski-Universität. Ende Mai gastiert sie im Diözesanmuseum von Breslau, dann in Zielonagora und Opole. Außerdem wird die im österreichischen Linz gezeigt.

Br. Korneliusz Konsek wurde 1962 in der Nähe von Opole in Polen geboren. 1981 trat er in den Orden der €Steyler Missionare ein. Er studierte Philosophie, Theologie, Drucktechnik und Publizistik und legte 1988 seine Ewigen Gelübde ab. Seit 1998 lebt Bruder Korneliusz in Baranowitschi, Weißrussland. Dort leitet er u.a. das Bildungs- und Exerzitienhaus der Steyler Missionare und dokumentiert als Fotograf die sozialen Probleme, aber auch die schönen Seiten Weißrusslands. Zudem untersteht ihm die Leitung der Zeitschrift "Dialog".

Kontakt Korneliusz Konsek: kkonsek@mail.ru (er spricht deutsch).

Bildnachweise: © Korneliusz Konsek SVD

Facebook: www.facebook.com/SteylerMissionare
 
Quelle: ECO-News Deutschland, D-81371 München
http://www.steyler.de
pr@steyler.de
    

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