Connection-First
Lady Iris Kunze reiste in die Mitte der Republik, um eine sehr vielfältige
und offene Gemeinschaft zu besuchen, die sich noch im Aufbruch befindet. Das
Ökodorf Sieben Linden praktiziert weitgehend Selbstversorgung in den elementaren
Bereichen des Lebens: Wohnen, Bauen, Lebensmittel, Energie, Kultur und soziales
Leben. Toleranz, demokratische Entscheidungsstrukturen und eine liebevoll-kritische
Förderung des gegenseitigen persönlichen Wachstums bilden die Eckpfeiler
der dörflichen +Philosophie½. Ein Modellprojekt für das menschliche
Gemeinschaftsleben der Zukunft?
Weit ab vom Schuss
in der Altmark, irgendwo zwischen Braunschweig und Magdeburg, fahre ich mit
dem Schienenbus nach Bandau. Unbeschrankte Bahnübergänge kreuzen Feldwege,
ansonsten Wiesen, Sumpf und Riesenfelder. Ich bin unterwegs ins Ökodorf
bei Poppau. Vom Bahnhof radle ich zum Dorf. Eine einsame Gegend, Einfamilienhäuser,
holprige Strassen lassen auf die sozialistische Vergangenheit schliessen ...
Und hier soll sich ein alternatives, ökologisches Gemeinschaftenprojekt
befinden? Ich staune, als ich schon von weitem die Tippi-Zelte und bunten Fahnen
flattern sehe. Ja, hier ist man verschont vom kapitalistischen Alltagsgeschehen,
hier ist der Freiraum, in dem sich ein kleines Ökodorf entfalten kann.
Initialzündung
in Gorleben
Der erste Funke
für die Entstehung des Ökodorfes wurde Mitte der achtziger Jahre bei
Platzbesetzungen am Atomzwischenlager in Gorleben entfacht. Der gemeinsame Widerstand
schweißte zusammen, und es wurden Hüttendörfer errichtet, um
dem Machtregime zu trotzen. Doch die Panzer kamen und zerstörten, was die
Visionäre voll Idealismus und Hoffnung auf eine lebenswertere Gesellschaft
zu erschaffen versucht hatten. Die Enttäuschung und der Schmerz waren groß,
doch daraus erwuchs eine neue Stärke: +Unsere Hütten könnt ihr
zerstören, nicht aber die Kraft, die sie schuf.½ Diese Kraft wollten die
Träumer nun nicht länger nur destruktiv in der Anti-Atom Arbeit einsetzen,
sie wollten etwas Positives dagegen setzen. Zeitungsannoncen für die Gründung
eines Ökodorfes brachten damals 30 Menschen aus der ganzen BRD zusammen,
die sich von nun an regelmäßig trafen, um zu planen.
+Wie können
wir leben, ohne andere Lebewesen auszubeuten? Wie schaffen wir es, achtsam mit
Ressourcen und Energien umzugehen? Wie können wir ein liebevolles Zusammensein
in Freiheit leben, ohne Dogmen und Zwänge?½ Das waren die Fragen, die die
Ökodörfler zusammenbrachten. Die wichtigste Frage war die, wie sich
all dies verwirklichen lässt?
Um richtig planen
und experimentieren zu können, brauchte man einen Platz. 1992 wurde im
Wendland, östlich von Hannover ein altes Gehöft mit Grünfläche
gefunden, wo zunächst zehn Menschen einzogen.. Der Gutshof wurde mit einfachen
Mitteln und viel freiwilliger Hilfe ökologisch saniert. Um das Projektzentrum
herum entstanden Betriebe, eine freie Schule und ein Tagungshaus. Die individuelle
Finanzierung wurde durch Arbeitslosengeld oder Teilzeitjobs an der Uni gedeckt,
um wirklich Zeit für das Projekt zu haben. Man dachte, in zwei Jahren wäre
man so weit, das Ökodorf in die Praxis umzusetzen. Es wurden fünf
Jahre daraus. Das Zusammenleben brachte zwischenmenschliche, psychologische
und soziale Themen zu Tage, die mehr Kraft in Anspruch nahmen, als man vermutet
hatte. So waren z.B. alle davon ausgegangen, dass die Kindererziehung in der
Gemeinschaft leichter wäre. Es stellte sich aber heraus, dass Meinungsverschiedenheit
und Missverständnisse über richtige Erziehung viel Energie benötigten.
Ein Projekt
wird aus der Taufe geholt
Schließlich
wurde 1997 ein geeignetes Stück Land nicht weit vom Projektzentrum gefunden,
das sich einen Kilometer außerhalb der Gemeinde Poppau in Sachsen-Anhalt
befindet. Die Gemeinde Bandau ist den visionären Ökologen sehr freundlich
gesonnenen und heißt das Projekt willkommen.
Inzwischen leben
etwa 50 Menschen allen Alters hier, und viele Sympathisanten unterstützen
das Projekt aus näherer oder weiterer Entfernung. Das Dorf ist in kleinere
Gruppen unterteilt, die Nachbarschaften, wo sich Gleichgesinnte zusammenfinden
können. So gibt es die +Unendlichen½, die es nicht eilig haben, zu bauen,
sondern sich in Wägen wohlfühlen. Die +0815er½ haben sich zwei gleichnamige
Niedrigenergiehäuser bauen lassen. Wegen ihrer Kinder hatten sie es eilig,
komfortabel zu wohnen. Dann gibt es den +Club 99½, dessen Mitglieder ganz konsequent
ökologisch und regional leben. Sie essen nur Lebensmittel aus der Region,
bauen ihr Haus selbst, ohne Maschinen und nur mit regionalen Baustoffen. Die
Dorfstruktur ist einmalig unter den Deutschen Gemeinschaften und bieten vielfältigere
Möglichkeiten, als das sonst übliche Zusammenleben unter einem Dach.
Bis zu 300 Menschen
sollen einmal hier wohnen. Das genügt, um sich in fast allen Bereichen
des Lebens selbst zu versorgen. Bei einer größeren Anzahl befürchten
die Bewohner, dass es unpersönlich wird und eine demokratische Entscheidungsstruktur,
die auf Konsens beruht, unmöglich wird. Unter Selbstversorgung verstehen
die Ökodörfler ein Wirtschaften in kleinen und engen Kreisläufen.
Man kennt den Bäcker, der das Brot backt, sieht das Feld, wo das Getreide
gewachsen ist. Man kennt die Arbeitsabläufe, die zu dem Endprodukt geführt
haben. Außerdem werden unnötige Transportenergien gespart, und man
weiß um die Qualität der Produkte, z.B. das Gemüse aus dem eigenen
Garten.
Nach innen
autark, nach außen engagiert
Um das zu gewährleisten,
wollen die Siedler viele kleine Betriebe aufbauen, um ihre Bedürfnisse
zu decken: eine Gärtnerei, Handwerksbetriebe, Ökologische Bauplanung,
ein +Heilhaus½ und nicht zuletzt Bildung und Kultur. Jeder ist selbst für
seine Grundbedürfnisse und sein Einkommen verantwortlich. In einigen Nachbarschaften
gibt es aber Überlegungen, gemeinsame Kasse zu machen.
Ein nachhaltiger
Lebensstil, wie man/frau so schwammig formuliert, zieht sich im Ökodorf
konsequent und ernsthaft durch alle Lebensbereiche. Das Dorf hat seinen eigenen
Brunnen und seine Pflanzenkläranlage. Es wird Regenwasser und Sonnenwärme
genutzt. Im Baubereich gibt es einerseits moderne Niedrigenergiehäuser
und andererseits den Bau eines naturnahen Strohballenhauses. Man ernährt
sich ökologisch und aus der Region.
Die Döfler
ziehen sich aber nicht in ihr idyllisches Landleben zurück, sondern engagieren
sich auch politisch in der Region. Eine Putenmastanlage versuchten sie durch
Gespräche mit dem Umweltminister zu verhindern. Heftige Kritik übt
die Gemeinschaft am nahen Atomzwischenlager, und das Thema Fremdenhass wird
mit Aufklärungsaktionen und Sonntagskaffee angegangen.
Außerdem
wird im Ökodorf das Eurotopia-Gemeinschaftenverzeichnis erstellt, um andere
Lebensweisen öffentlich zu machen. Noch immer gibt es in der Bevölkerung
Vorurteile in Bezug auf Lebensstile, die über Kleinfamilie und Singledasein
hinausgehen. Aber die Bemühungen sich gesellschaftlich zu etablieren, fruchten
manchmal auch. Z.B. hat das Projekt im Jahr 2000 von der Deutschen Umweltstiftung
einen Sonderpreis für seinen ganzheitlichen und nachhaltigen Ansatz erhalten.
Einzige
gemeinsame Philosophie: Toleranz
Die Gemeinschaftsstrukturen
des Ökodorfs sind vielfältig, weil die Menschen es auch sind. Es gibt
keine gemeinsame Philosophie oder religiöse Praxis. Was die Menschen zusammenbringt,
ist das Interesse an den anderen, am Leben in Gemeinschaft. Damit verbunden
ist auch die Toleranz und Achtung vor Mensch, Natur und Erde. Das Fehlen einer
gemeinsamen Ideologie und einheitlicher Persönlichkeitsmerkmale führt
immer wieder zu Konflikten, aus denen die Dorfbewohner jedoch lernen. Die ökologisch
Konsequenten müssen respektieren, dass die Genießer ihre Südfrüchte
brauchen. Die Spirituellen sollten es aushalten können, für ihre Morgenmeditation
verlacht zu werden. Die meisten sind froh, dass nicht alle gleich sind, denn
Unterschiede ergänzen sich bekanntlich.
Die Nachbarschaften
treffen regelmäßig im Plenum zusammen, um Praktisches und Persönliches
auszutauschen. Von anderen Gemeinschaften angeregt, wird im Dorf wöchentlich
ein +Forum½ praktiziert, bei dem Einzelne in den Kreis der Gemeinschaft treten,
um +sich zu zeigen½. Liebevoll und im Rahmen einer klaren Kommunikationsstruktur
bekommt der Redner/die Rednerin Feedback und die Chance, sich selbst aus einem
anderen Blickwinkel zu betrachten. Der zweite Effekt ist, dass man durch die
Öffnung immer wieder neu in die Gemeinschaft integriert wird.
Den rechtliche
Rahmen bildet zunächst der 1991 gegründete Verein. Später, als
das Ökodorf entstand, wurde eine Siedlungsgenossenschaft ins Leben gerufen,
der alle Immobilien gehören. Alle Siedler sind Mitglied darin und entscheiden
gemeinsam über sie betreffende Belange. Diese demokratische Grundlage bietet
die Voraussetzung dafür, dass alle Beteiligten gleichberechtigt zusammenleben
können, ohne von den Launen und der Willkür einiger Weniger abhängig
zu sein.
Alternativ,
aber etabliert
Das Ökodorf
ist inzwischen weit bekannt und gut besucht. Fraglich ist, ob die strukturschwache
Gegend genug Möglichkeiten für Arbeitsplatzentwicklung bietet. Wenn
viele Menschen ins Dorf ziehen, werden auch mehr Arbeitsplätze entstehen.
Hier ist eine junge Gemeinschaft mit viel Enthusiasmus und großem Potential,
die in ihrer zehnjährigen Geschichte schon einige Hürden überwunden
hat. Obwohl es auf einem +alternativen½ Konzept beruht, ist das Ökodorf
politisch und gesellschaftlich akzeptiert, was ihm ein gutes Fundament verschafft.
Mir scheint, das Projekt ist aus den Kinderschuhen herausgewachsen und realistisch
genug, um die anvisierten Ziele erreichen zu können.
Das Ökodorf
bietet ein buntes Seminarprogramm sowie Camps und Festivals - gute Gelegenheiten,
um das Projekt kennen zu lernen.
Infos: Ökodorf
Sieben Linden, 38486 Poppau, Tel: 039000-51235, www.oekodorf7linden.de
Text von Iris Kunze
Iris Kunze,
25, engagierte sich zunächst in der Anti-Atom-, Anti-Auto- und Anti-Kapitalismus-Arbeit
in politischen Gruppen. Heute empfindet sie sich als +pro Anders Leben½. Sie
lebte drei Jahre lang in kommunitärer Gemeinschaft, sie schreibt nebenbei
an einer Geographie-Diplomarbeit über Leben in Gemeinschaften.
Beiträge zur
Ökologie, Spiritualität, Bewusstsein und einem ganzheitlichen Verständnis
von Mensch und Natur www.connection-medien.de